LOOCK: Wohnmaschine Archive

"THE BEGINNING...", Wohnmaschine 2003


 

Das World Trade Center war für viele nicht nur das Symbol der freien, westlichen Welt’, sondern – ganz banal – auch der beste Ort, um die Stadt New York von oben sehen zu können. Für Berlin übernimmt der Fernsehturm am Alexanderplatz diese Rolle, mit Einschränkungen vielleicht auch der Reichstag. Nicht nur Touristen pilgern an diese Orte, sondern auch die Bewohner der Städte selbst. Ist es nicht das höchste Gebäude, ist es ein anderes, ein hohes; oder ein Hügel, ein Balkon, ein Dach. Der Mensch tut so etwas, um Größe und Entfernung relativieren zu können, um sich nicht mehr so klein, machtlos und unbedeutend, als Teil eines großen Systems zu fühlen. Sondern um es zu überblicken, sich davon zu distanzieren und sich selbst in Bezug zu diesem System zu setzen. Die Künstlerin Holly Zausner nimmt diesen psychologischen Trick’ zum Anlass, sich selbst in Beziehung zu setzen zu der Stadt, in der sie lebt und arbeitet: Sie nähert sich Berlin von dessen Dächern aus mit Hilfe von G-man und G-woman.

 

Die G-men und G-women sind leuchtend-bunte, anthropomorphe Figuren aus weichem Silikon-Kautschuk unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Gewichts, die sie in ihrer künstlerischen Arbeit seit Jahren weiter entwickelt hat. Die erste Figur war bereits für das Projekt G-Woman (2001) entstanden. Inspiriert von einem Film Noir der späten 70er Jahre, entwickelte Zausner diese Figur, um sie auf dem Dach ihres eigenen Hauses in New York ein Jahr lang jeden Tag in die Luft zu werfen und dabei zu fotografieren.

 

Für sie entsteht durch das Werfen eine Verbindung zwischen ihr selbst und der Stadt, die sie wiederum zum Nachdenken über sich selbst inspiriert. Auf diese Weise formt sich ein Dialog zwischen dem Ort und ihr, ihren Erlebnissen und Gedanken. Durch die Fotografie wird dieser Dialog produktiv und wandelt sich in etwas Neues: mit der Figur in der Luft über New York verdichtet er sich zu einer abstrakten Erzählung, in der all das enthalten ist, was die Stadt für sie bedeutet, wie sie sich selbst sieht und in welcher Beziehung beide zueinander stehen.

 

Indem sie die Arbeit, die sie auf den Dächern ihrer Heimatstadt entwickelt hat, in Berlin weiter führt, verbindet sie für sich auch die losen Enden der eigenen Geschichte miteinander – die jüdischen, aus Deutschland emigrierten Großeltern prägten Ihre Erziehung und die Werte, mit denen sie aufwuchs. Als Erwachsene vollzieht sie die Emigration auf umgekehrtem Wege nach und erfindet sich selbst im neuen/alten Land neu.

 

So ist es folgerichtig, dass Holly Zausner sich in der neuen Arbeit selbst ins Bild rückt. Die Verdichtung im Moment wird entzerrt zu einer Erzählung im Bild, das die Elemente sichtbar macht, die sie konstituieren.

 

Die skulpturale Fotografie wird erweitert um ein performatives Element, das die Skulptur in den Raum einzeichnet. Der Dialog ist nicht mehr in der Figur sublimiert, die Künstlerin geht ihn selbst ein – mit der Figur, mit dem Raum und mit der Stadt. Sie zeigt viel mehr von sich selbst und macht sich damit verletzlicher, begibt sich so aber auch weiter in ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart hinein. Berlin ist für sie nicht Kulisse, sondern steht für seine und ihre eigene schwierige Geschichte, für deren Konstruktion und Rekonstruktion, für das Nebeneinander unterschiedlicher Zeitebenen.

 

Für das Berlin-Projekt erweitert Holly Zausner auch ihre Formensprache. Der Spur der Erzählung folgend, die ihrer Fotografie innewohnt, transformiert sie ihr Medium ebenfalls. Die Fotografie einer in der Bewegung eingefangenen Figur wird erweitert durch die Abbildung der Aktion des in-die-Luft-Beförderns’ der Figur. Diese gefrorene Aktion wiederum wird eingebettet in den Zeitablauf, in das Hintereinander mehrerer Bewegungen: Die Kontaktbogen der 12 einzelnen Fotografien jedes Farbbildfilmes in der Ausstellung illustrieren das Nacheinander mehrerer Bewegungsabläufe. Konsequenter Weise bildet der Film das dritte Medium, das dieses Projekt bestimmt. Auf 35 mm wie ein Spielfilm gedreht, entwirft die Künstlerin hier die tatsächliche Erzählung, als wolle sie dem, was sie zuvor versprochen hat, nun endlich nachkommen. In obsessiver Wiederholung wirft sie die Figuren dem Himmel über Berlin entgegen, ausgehend von historischen Orten der Stadt – Neue Nationalgalerie und Philharmonie, Palast der Republik, Dom, Rotes Rathaus und Alexanderplatz, Abriss- und Neubauszenarien. In der Zusammenschau dieser Berliner Topografien und der körperlichen Anstrengung der Künstlerin scheint der Film eine persönliche Aneignung zu dokumentieren, die die Intensität dieses Vorgangs und die Bedeutung von Raum und Zeit spürbar macht.

 

Die Kraft der Kontaktbogen liegt dagegen in der Abstraktion. Einige der Motive verlegen den Schwerpunkt der Wahrnehmung von der Stimmung und des Überblicks auf den der Kontur. Die Dreidimensionalität der Philharmonie tritt beispielsweise durch die Reihung der Bilder in den Hintergrund, zentral wird die Fläche, die Textur der gelblichen Fassade. Der Körper der Künstlerin und die Farben der Figur lassen dies nur noch deutlicher hervortreten. In diesem Zusammenhang erhalten die Vergrößerungen einzelner Fotografien – um den Kreis zu schließen – eine neue, weitere Qualität. Der Blick rückt weg vom Zentrum des Bildes, Details werden sichtbar, definieren ihre Umgebung um, gehen Verbindungen mit ihr ein und beziehen sich doch gleichzeitig auf das Ganze. Der Besucher ist hin und her gerissen zwischen Nähe und Distanz, Detail und Überblick, Vorder- und Hintergrund, Konkretion und Abstraktion – und gewinnt so einen tiefen Einblick in die Beziehung der Künstlerin zur Stadt.

 

Ellen Blumenstein