LOOCK: Wohnmaschine Archive


Marisa Mandler

Dear Orpheus,

31. Oktober - 15. Januar 2010

 

 

Der berühmten griechischen Sage nach stieg Orpheus in die Unterwelt, um durch seinen Gesang und das Spiel seiner Lyra den Gott Hades zu bewegen, ihm seine Geliebte zurückzugeben. Seine Kunst war so groß, dass ihm seine Bitte tatsächlich gewährt wurde - jedoch unter der Bedingung, dass er beim Aufstieg in die Oberwelt vorangehen und sich nicht nach Eurydike umschauen dürfe. Da er ihre Schritte nicht hörte, sah er sich um und sie entschwand für immer in die Unterwelt.

 

Die Künstlerin Marisa Mandler fasziniert besonders ein ganz bestimmter Augenblick dieser mythologischen Geschichte, nämlich der Moment kurz bevor Orpheus sich nach seiner Braut umblickt, in dem also alles in der Schwebe, alles noch greifbar ist - sowohl ein erfülltes Leben als auch der Beginn seines Untergangs. Ein Herzschlag nur, in dem alle Eventualitäten einer zukünftigen Existenz in einem Punkt zusammenfallen. Der Spannung und Energie, die in diesen wenigen Sekunden enthalten ist, versucht Mandler durch ihre neuesten Werke Gestalt zu geben, die erstmals in einer Einzelausstellung mit dem Titel 'Dear Orpheus,' in der Galerie Wohnmaschine gezeigt werden.

 

So trägt die zentrale Arbeit der Ausstellung den Titel The Moment Between. Es ist eine raumgreifende Installation aus mehreren dünnen Membranen von menschlicher Größe und aus weißer Keramik, die an die Galeriewand gelehnt sind. Sie biegen sich ihr entgegen, teilweise durchziehen sie zarte Bruchstellen und ihre Oberfläche ist an einigen Stellen hauchdünn, so dass sie lichtdurchlässig und beinahe durchsichtig wird. Diese Objekte sind wie die Synonyme jenes Schwebezustands, in dem die Existenz auf der Goldwaage liegt, in dem alles durchscheinend, fragil und angreifbar wird. Für die Zeichnung Feburary 26th, 2009 hat Mandler über einen ganzen Tag verteilt 26 Sekunden lange Tonsequenzen aus ihrem Alltag aufgenommen, vom Berliner Straßenlärm oder den Gesprächen der Tischnachbarn im Café zum Beispiel. Mit einem Musikprogramm hat die Künstlerin diese in eine graphische Darstellung am Computer in Amplituden umgewandelt, auf Papier projiziert und in eine filigrane Tuschezeichnung umgesetzt. Unweigerlich denkt man auch an Kardiogramme, an Aufzeichnungen von Herzbewegungen. So wirken diese zarten Linien, changierend zwischen Lärm und völliger Stille, wie ein Maßstab der Intensität eines jeden Ereignisses und des Potenzials, das in jedem Augenblick unseres Lebens enthalten ist.

 

Marisa Mandler (*1980 in Los Angeles) hat an der New York University in New York und an der University of Southern California in Los Angeles Kunst studiert, wo sie 2008 ihren Master in Fine Arts absolviert hat. 2010 ist sie „artist in residence“ an der Skowhegan School of Painting and Drawing in Maine, USA.

Zurzeit ist Marisa Mandler Trägerin des Willert Stipendiums in Berlin.

 

Text: Natalia Stachon