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Unterschiede im Gleichen – ein Erinnerungsprojekt Zur Bildkonzeption von Miwa Yanagi


 

Zugehörigkeiten. Welche Optionen haben junge, modebewusste Mädchen in den Städten Japans, die sich durch Stil von anderen unterscheiden und gleichzeitig zu einer Gruppe gehören wollen? Sie gehen als Kogal, ziehen ihre Schuluniformen mit besonderem Augenmerk auf kostbare, aber loseschlabbernde Socken an und wechseln oder tauschen sie mit eleganter Umständlichkeit in der U-Bahn. Darin liegt ihre identitätsstiftende Abweichung. Oder sie gehen als Ganguro, tragen sehr dunkles, fast schwarzes Makeup, kontrastieren es grell mit weißem Lippenstift und weißem Lidschatten und lassen ihr Gesicht wie Umkehrungen des Make-ups von Geishas erscheinen, träumen davon, möglichst früh zu heiraten, Kinder zu bekommen und ein häusliches Leben zu führen. Oder sie fühlen sich als Otaku, sammeln obsessiv alle Bildergeschichten (Mangas) und sprechen von nichts anderem. Was aber haben diese produktorientierten Gruppen mit der Künstlerin Miwa Yanagi zu tun? Immer sei das Erscheinungsbild wichtig, kommentiert sie die Modetypen. Sie wollen etwas zeigen. Mit dieser Einstellung gegenüber Oberflächen stellt sie sich abseits der variationsreichen Pop Art-Traditionen, die unter den Oberflächen nichts erkennen wollen. Yanagi vermutet etwas. Dazu zählt sie auch den Hang, anderen zu folgen und über Logos, Marken und Produkte Unterscheidungen auszubilden. Das Gefühl, einer Gruppe anzugehören, so Yanagi, sei – nicht für alle, aber für viele – ein identitätsstiftender Quell der Freude und Abwechslung. Modebewußte Gruppierungen wie die genannten kultivieren eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber kleinsten Details der Etikette und disziplinieren den Umgang mit anderen. Doch diese hochtrainierte Aufmerksamkeit gilt nur Phänomenen innerhalb der eigenen Gruppe und schärft die Sinne nur noch gegenüber jenen Gruppen, die ihr angrenzen. Jenseits dieser Gemeinschaften endet die Bedeutung der Welt. Yanagi hat diesen Hang, zu einer Gruppe mit geregelten Kodes, Benimmregeln, Kleidungsvorschriften zu gehören oder ihr zumindest nahe zu sein, einem schlaglichtartigen Test unterworfen. In einer ihrer ersten Performances Anfang der 1990er Jahre ließ sie mehrmals junge Frauen eine stillschweigend inszenierte Museumsführung absolvieren. Alle Frauen trugen Uniformen und rezitierten denselben Text im gleichen einstudierten Tonfall. „Als die Museumsführerinnen dieselben Worte in derselben Uniform während der Performance sprachen,“ beschreibt Yanagi diese Aktion im Rückblick, „kam es nach einer Weile dazu, dass die Besucher ihnen folgten. Das Publikum schaute nicht auf die Kunstwerke des Museums. Einige verließen sogar das Museum, als die Performance zu Ende war.“2 Aus diesem Experiment schließt sie, dass bereits vorübergehende Teilhabe an einer Gruppe einem das Gefühl von Zufriedenheit gäbe. „Ich habe … [es selbst] erlebt. Und ich wollte, dass es andere auch sehen.“3 Ihr kritischer Unterton ist ohne einen satirischen Oberton nicht zu haben und klingt gleichwohl wie eine ernüchternde Erfahrung durch gesellschaftliche Kodierungen hindurch. Sie habe die Begeisterung und die unwillkürliche Benebelung zeigen wollen, die manche angesichts einer Gruppe befallen und sie dazu verleiten, dem Uniformen spontan zu folgen. Und sicherlich, schränkt sie im Rückblick ein, sei das sehr zynisch gewesen. Ihr Werk hat eine Basis in der Wirklichkeit der japanischen Gesellschaft und beruht auf Beobachtungen, die sie in Performances und Bilder umsetzt. Alle Werke setzen Frauen, Erscheinungsbilder und Etiketten ins Zentrum, alle handeln von Uniformen oder Verkleidungen, alle von Gruppen und Zugehörigkeiten – und der Befreiung davon, alle von Selbstbildern, die sich in Gemeinschaften ein- und auflösen lassen. Sie konzentriert sich auf die Lebens- und Denkweisen von Frauen und geht in aufwendigen Recherche-Projekten und Inszenierungen deren Träumen, Wunschbildern und Erinnerungen nach. Männer tauchen selten auf; und wenn doch, dann nur als Attribut des Vergnügens einer Frau; nie sind sie Hauptperson, nie Subjekt. Künstlerin in Japan. Doch wer ist Miwa Yanagi? Es ist noch nicht lange her, da war in Europa selbst bei Insidern auf die Frage nach fünf zeitgenössischen Künstlern aus Japan nur verlegenes Stammeln zu vernehmen. Mittlerweile kann man Nobuyoshi Araki, Mariko Mori, Yasumasa Morimura, Takashi Murakami ebenso aus dem Stand buchstabieren wie Yoko Ono oder Miwa Yanagi, die 1996 in der Schirn Kunsthalle und im Frankfurter Kunstverein bei Prospect ‘96 zum ersten Mal außerhalb Japans ausstellte. Bis dahin hatte sie niemals zuvor gesehen, dass sich bei einer Eröffnung von Gegenwartskunst Warteschlangen vor dem Eingang bildeten, Presse und Fernsehen anwesend waren und Sammler sich für ihre Werke interessierten. Dieses öffentliche Interesse war ihr so neu, dass sie noch nicht einmal einen Verkaufspreis in Erwägung gezogen hätte. In Japan gäbe es, so Yanagi, nur einen verschwindend kleinen Markt für etablierte zeitgenössische Kunst; für jüngere Künstler aber überhaupt keinen. Die meisten Künstler arbeiten als Lehrer und sind gezwungen, für Ausstellungen Galerienräume zu mieten. Ein Netz von Galerien, Kunsthäusern und Museen befindet sich in einem komplizierten Anfangsstadium mit vereinzelten Highlights, aber ohne Basis. Perspektiven, sich ganz dem Werk zu widmen, gäbe es nur für wenige. Yanagi gehört seit ihrer Einladung nach Frankfurt zu diesen Ausnahmen. Jedoch, so fügt sie einschränkend und höflich relativierend hinzu, wäre sie sicherlich keine Künstlerin geworden, wenn sie mit der Situation, in die sie hineingewachsen sei, einverstanden wäre. Wie fast alle Künstler reist sie viel. Doch ihr Atelierhaus steht in Kyoto, der Stadt, in der das moderne Japan wie durch eine stille Verabredung und wie selbstverständlich seine alten Traditionen lebendig hält. Nach Kyoto fährt man aus Tokyo und anderen Städten im April, um die Kirschblüte zu erleben, den Tanz der Geishas zu sehen, die Tempel zu verehren. Manche meinen, hier sei überall eine Freude begraben. Es bedürfe nur eines Blicks, um sie zu erwecken. Nach Kyoto kehrt Miwa Yanagi immer wieder zurück. Hier steht ihre Computeranlage in einem Raum mit Blick in einen Garten. Warum Kyoto? Es liegt fern von Tokyo, erlaubt aber durch einen Schnellzug zu pendeln. Doch Tokyo vermittle einen rasenden Produktionsdruck, der der künstlerischen Arbeit nicht zuträglich sei. Kyoto hingegen ließe sie in ihrem eigenen Rhythmus arbeiten. Recherche-Projekte. Ihre seriellen Werke entspringen einem neugierigen, immer kritisch-inszenatorischen Impuls und haben nun zu einem Erinnerungs- Projekt geführt, dessen Umrisse nach den großen Reihen Elevator Girls (1993 - 1999), My Grandmothers (seit 1999) und Granddaughters (seit 2002) erkennbar werden. Die Recherche zwischen Erinnerungen, Vorstellungen und Wunschbildern umfasst den Zeitraum von ca. 1850 bis 2050 – ein Kontinuum von zweihundert Jahren, das durch mündliche Überlieferung zu umfassen möglich ist. Die Berichte beruhen auf realen Personen und ihren erinnerten und vorgestellten Ereignissen, also einer Mischung aus Fakten und Fiktionen. Kein Kunstprojekt ist diesem vergleichbar. Und es ist kein Zufall, dass Yanagi einen Rückgriff auf die Erinnerungen von Großmüttern über ihre Großmütter in ihr Projekt miteingeschlossen hat. Denn Mitte des 19. Jahrhunderts begann das bis dahin für Fremde schwer zugängliche Japan, sich der umgebenden Welt zu öffnen. Yanagi erwischt gerade noch den Schatten des Beginns. Künstler, die mit fotografischen Mitteln arbeiten, suchen nicht zwanghaft den entscheidenden Augenblick, sondern eine hinreichende Reihe von Einstellungen, um einen Gedanken zu beleuchten, eine Recherche zu dokumentieren, Phänomene der Vorstellung in Bildern aufzufächern. Stets ist den Bildern eine formschaffende Idee zeitlich vorgelagert, die die Serien regulieren. Formsprengende Zufälle sind weitgehend ausgeschaltet. Falls sie sich ereignen, münden sie nicht in eine weitere Variante, sondern begründen eine neue Reihe. Medien. Im Japanischen ist das Äquivalent von Kunst bijutsu eine Zusammensetzung aus Technik und Können jutsu und Schönheit bi. Das Kunstschöne hat daher immer schon mit der technischen Herstellung des Schönen, seiner Produziertheit zu tun. Mittlerweile gibt es eine Vielfalt von Mischformen digitaler Bilder: Analoge Fotografien, die digital bearbeitet und digital ausgedruckt werden. Oder umgekehrt: Fotografien, die mit einer digitalen Kamera aufgenommen, weiter bearbeitet, dann aber mit traditionellen fotografischen Verfahren bis zum Druck fertiggestellt werden. Oder auch kameralose Bilder, die im Computer generiert werden. In jedem Fall ist das Original eine unsichtbare Bilddatei auf der Festplatte. Um sichtbar zu werden, bedarf diese Bilddatei eines Mediums, das ihr Sichtbarkeit verleiht. Da aber die verschiedenen Medien, die Sichtbarkeit herstellen – Bildschirm, Projektor, Drucker, Farblaser –, jeweils eigene Qualitäten ins Spiel bringen, ist die Wiedergabe der Bilddatei immer eine Variante des Originals. Es kann zwar als Original ununterscheidbar als Bilddatei kopiert werden, so dass man zwei oder unendlich viele unsichtbare Originale hat. Die Varianten der Sichtbarkeit unterscheiden sich aber alle. Nur das Unsichtbare ist unendlich wiederholbar und mit sich selbst identisch. Deshalb könnte man folgern: Wer über die Datei verfügt, verfügt über das Werk. Wer eine Variante besitzt, hat eine entschiedene Interpretation.6 Wer aber die Datei besitzt, ist in der Lage, das Original zu manipulieren, ohne dass dies nachweisbar wäre. Spuren der Veränderung hinterlässt eine Bearbeitung nicht; sie bringt ein „neues“ Resultat und löscht das „alte“ aus. Zuvor ist nie gewesen. Deshalb ist der Unterschied zwischen analoger Fotografie und digitaler Fotografie ebenso kategorial, wie der zwischen digitaler Fotografie und computergenerierten, kameralosen Bildern. Für die Kunst sind diese technischen Unterschiede von Belang. Doch kein Werk kann seriös gegen ein anderes nur wegen seiner technischen Avançiertheit auf- oder abgewertet werden. Verwirrend aber bleibt, dass sich noch keine Benennungen durchgesetzt haben, die die einzelnen Kategorien unterscheiden. Bei Miwa Yanagi spricht man von computergestützter Fotografie oder treffender von synthetischer Fotografie. Denn es handelt sich bei Elevator Girls und My Grandmothers um Bildsynthesen aus fotografischen Aufnahmen realer Personen mit Digitalkamera und computergenerierten und weiterverarbeiteten Bildbestandteilen zu täuschend realen Komposition. Doch Yanagi führt nicht die Technik vor. Ihre Bildkompositionen basieren auf Recherchen. Elevator Girls (1993 - 1999) Midnight Awakening Dream. Miwa Yanagi bezieht die Serie Elevator Girls auf ihre Erfahrung. Sie erkannte in den uniformierten Mädchen, die in den Hochhäusern Japans ebenso allgegenwärtig sind wie Schnittblumen, eine Metapher für das Leben junger Frauen.7 In ihrem ersten künstlerischen Werk reagierte sie mit einer Performance, liess ein uniformiertes Mädchen in einer engen Schachtel sitzen und so ausdauernd lächeln, bis sie Schmunzelkater hatte. „Das war“, sagt Yanagi im Rückblick, „ziemlich zynisch“8. Die Interpreten in Japan betonen die Lebensferne dieser Serie. Die Mädchen auf den Bildern seien „leblos“, „android“ und wie hinter Glas ausgestellt.9 Gleichzeitig gibt es japanische Interpreten, die die Bilder im Gegenteil mitfühlend, expressiv und sozialkritisch deuten. Yanagi würde „die Unterdrückung und Isolation verdeutlichen, die Frauen in solchen Umgebungen spüren, als wären sie ihrer Identität beraubt und zu bloßen Bestandteilen der Szenerie reduziert worden.“10 Passanten, die täglich die jungen, hübschen Mädchen in den Aufzügen sehen, erkennen zwischen den Mädchen sicher so viele Unterschiede wie zwischen roten Rosenarten. Um die Unterschiede zu erkennen, reicht aber ein Panorama-Blick, der schnell das Ganze erfassen will, nicht aus. Man muß den Blick wie in einem Rosengarten verweilen lassen. Im Gegensatz zu den anschließenden Serien My Grandmothers und Granddaughters spielt das Individuelle keine Rolle, sondern die visuellen Differenzen im Ähnlichen. Von der Geschichte der Mädchen erfährt man nichts, weiß nicht, weshalb sie zu dieser befristeten Tätigkeit gekommen sind oder was sie danach zu tun gedenken. Denn sie wissen, dass für diesen Job nur die Schönsten der Mädchenblüte ausgewählt und bald ersetzt werden. Es ist ein nur vorübergehendes Dasein. Die Bildserie transportiert das Ornament wie einen blinden Passagier, der die Fäden zieht. Er bestimmt die Struktur der Bilder und beherrscht das Kompositionsprinzip, mit seinen harmonisch anordnenden Strukturen. Allen Elementen wird ihre Stelle durch Symmetrie und Reihung zugewiesen. Dieser blinde Passagier strukturiert auch Eternal City I, (1998). Hier sitzen elf Mädchen in einem ansonsten menschenleeren modernistischen Gebäude vor einer breiten Treppe um eine leuchtend weiße Modellstadt. Alle Mädchen tragen das gleiche blaue Kostüm mit einer gestärkten weißen Schleife vor der Brust. Und je länger man schaut, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass die uniformierten Mädchen selbst Teil der Modellstadt sind, auf die sie fasziniert und völlig eingenommen wie auf einen Kristall schauen. Er wird von einem Oberlicht in elliptischer Fassung überwölbt, das seinerseits ein visuelles Echo in zwei symmetrischen Fluchtpunkten findet, die sich in weiter Ferne verlieren. Jedes Element ist das Echo eines anderen. Die Mädchen sitzen auf einem Rautenmuster und bilden um das Stadtmodell selbst eine Rautenform. Ellipse, Raute, spitzwinklig auseinander strebende Raumfluchten sind allesamt dynamische und unvollkommene Formen. Verlässt man die Seitenansicht, die das Bild dem Betrachter wie einem zufällig vorübergehenden Passanten bietet und nimmt in der Vorstellung den Standpunkt über dem Oberlicht ein, dann sieht man das elliptische Oberlicht als Kreis, die Rauten und die Mädchenschar als Quadrat und die Raumfluchten stoßen orthogonal in der Modellstadt aufeinander. Offenbar befindet man sich in der Ecke eines Mandalas, einer Idealkonfiguration, die es nur als Idealbild und Vorstellung gibt. Daher der Zustand zwischen Wachen und Träumen, der für viele Bilder charakteristisch ist und den Yanagi in einer kleinen Publikation, die einen Teil der Elevator Girls im Postkartenformat dokumentiert, im Nebentitel Midnight Awakening Dream11 nannte – so als erwachte man in einen Traum und träumte fort. „Durch die meisten Räume“, führt Yanagi aus, „die in Träumen erscheinen, geht man einfach hindurch. Ebenso passiert man überall in der Wirklichkeit Durch- und Übergänge, Straßen, Treppen, Aufzüge, Rolltreppen, Bahnsteige.” Die Umgebung der ornamental eingebetteten Mädchen erweitert sich ins Endlose. Der Raum öffnet sich und seine Fluchten verlieren sich in den Verzweigungen eines Labyrinths ohne Zentrum. Alles ist Passage, Traum, Metapher. Im zweiteiligen Elevator Girl House 1F zeigt das eine Bild sitzende und liegende Mädchen in roten Uniformen auf einer Transportbahn für Fußgänger (wie man sie in Flughäfen findet), flankiert an beiden Seiten von einer Fülle verschiedener Schnittblumen hinter Glas. Der Fluchtpunkt verschwindet in einem schwarzen Loch. Das andere Bild zeigt fast die Umkehrung. Die Mädchen stehen in der Vitrine, jede in einer minimal anderen Haltung, und die Transportbahn verliert sich in der Ferne im Weiß. Die Blumen haben sich verwandelt. Bezogen auf die Modetypen, von denen eingangs die Rede war, sagte Yanagi, was auch hier gilt: „Obwohl sie scheinbar alle gleich aussehen, liegen ihre Unterschiede im Gleichen. Der Unterschied ist zwischen ihnen so minimal, dass man ihn von außen nicht sogleich erkennen mag.“13 Gleichwohl liegt er nicht nur unter den Oberflächen. Denn das subtile Wechselspiel zwischen Geometrie und Arabeske, Gerade und Schleife, Starre und Bewegung unterliegt der absoluten Kontrolle der Künstlerin.14 Diese lockerte sie für die anschließende Serie. Sie begann, mit den Modellen zu kooperieren. My Grandmothers (seit 1999). „Großmütter“ heißt nicht, dass die Frauen, die sich in ihren Vorstellungen mit einer Zeitkapsel in die Zukunft schießen, auch Enkel haben. Enkel spielen kaum eine Rolle in den Wunschbildern. „Großmütter“ heißt lediglich, dass es sich um alt gewordene Frauen handelt. Diese „Großmütter“ tragen nicht die Würde gealterter Gesichter, wie man es in der anschließenden Serie Granddaughters sehen wird, sondern die äußerst stilisierte Vorstellung alter Gesichter – ein umgekehrter Jugendstil. Die Falten sind zu faltig und das Hagere zu abgehagert, um von gelebtem Leben zu sprechen. Die Alten wirken nicht alt, sondern monströs. Dies passt zum Plan. Junge Frauen stellen sich vor, was sie im Alter tun; sie malen sich aus, wie sie im Alter aussehen, was sie anziehen und in welcher Umgebung sie sein werden. Deshalb zeigen die Bilder Stilisierungen von alten Gesichtern, keine alten Gesichter. Yanagi bildet eine Fantasie über das Gealterte ab, nicht das Alter selbst. Der Unterschied ist kategorial. Das Alter ist in jeder Gesellschaft mit Tabus umgeben. Sich in der Rolle als Großmutter oder als alte Frau vorzustellen, gehört nicht zu den Kleinmädchenträumen, denen noch im Wachen nachgeträumt wird. Wenn aber eine Künstlerin den Tod in Sichtweite bringt, steht alles auf dem Spiel: ihre künstlerische Seriosität, ihr professionelles Ansehen und ihr Erfolg im Kampf gegen das kunsthistorische Klischee, eben das zu tun, was tausend andere Künstler vor ihr taten, nämlich an das Sterben zu erinnern und die Nähe des Todes zu visualisieren. Der Tod selbst kann warten; er ist abstrakt. Aber die Todesnähe des Alters ist vorstellbar. Darin liegt Yanagis Provokation an das Publikum und die Herausforderung an sich selbst als Künstlerin. Sie führt das Hässliche ins Bild ein (es unterscheidet sich völlig von der Produktwerbung, wo selten alte Frauen erscheinen, und wenn: frisch wie der Morgentau). Sie hat es in der Hand, ob die Bilder ihrer Alten als grotesk übertrieben distanziert werden können oder ob sie ihre todesnah mißvergnügliche Wirkung entfalten. Dazu hat sie sich für einen produktiven Kontrast entschieden. Die Großmütter stehen vital im Leben, sind aktiv und handeln fast alle. Doch ihre Gesichter sind verwelkt. Damit stehen sie in direkter Umkehrung zu den Elevator Girls. Worin liegt das Glück, Großmutter zu sein? Mit einem jungen Mann auf dem Motorrad über die Golden Gate Bridge in San Franscisco zu rasen. Als Präsidentin eines Vergnügungsparks mit Walt Disney zu konkurrieren. Auf den Gräbern zu stolzieren. Mit einer Schar von Kindern durch eine Schneelandschaft zu gehen. Mit der Freundin nach einer Hausparty herumzualbern. Den Enkeln zu erzählen, dass Prostitution früher verboten war. Sie sehen alt aus und benehmen sich wie junge Leute. Das Lebensalter der Großmutter – Ermüdungen, Zipperlein – wird fast gänzlich ausgeblendet. Zu jedem Bild gehört ein Text, auf dem die Vision, wie es einst sein sollte, wie ein Gedicht von den Befragten zu lesen ist. Damit nimmt sie ein langes Band formaler Bildtradition Japans auf und konstruiert eine Fantasie über die fünfziger Jahre des 21. Jahrhunderts. Sie mußte wie eine Science-Fiction-Regisseurin entscheiden, welche Orte, welche Architektur, welches Interieur, welche Kleidung, welches Accessoire, welche Körpergesten sie dieser Zukunft geben soll. Die Mädchen schenkten ihr einen Traum und sie entwarf als Szenografin dessen Erscheinungsbild. Das Dokument ist eine Fiktion. Aber nur als Fiktion ist es wahr. In fast allen Wunschbildern stehen die Großmütter mitten im Leben, leben ein Leben außerhalb der bisherigen Norm Japans, verhalten sich weder rollenkonform, noch stellen sie sich einer gesellschaftlichen Gruppe zugehörig dar. Träfen sie sich einst in diesen selbst entworfenen Rollen, es wäre ein bunter wilder Karneval: jenseits aller meist betulichen Bilder, die alle Gesellschaften für Großmütter pflegen. Es ist, als wolle Yanagi die Energie zukünftiger Generationen spüren. Sie hat zwar viele Visionen aufgezeichnet, aber nur jene umgesetzt, die ihr interessant genug erschienen. Wichtig war ihr, dass die Visionen die Aura von Selbständigkeit ausstrahlen.15 Mittlerweile hat sie die Recherche auf junge Frauen außerhalb Japans ausgeweitet. Da es sich nicht um Sichtbares, sondern Vorgestelltes handelt, ist es angemessen, keine analogen, sondern synthetische Fotos herzustellen. Sie nannte die Serie My Grandmothers und relativierte die Serie, in dem sie sie auf sich bezog. Dieser relativierende Bezug entfällt bei der Serie Granddaughters. Granddaughters (seit 2002). Großmütter sind für die Enkelinnen, so Yanagi, eine wundersame Erscheinung. Anders als die Mütter würden sie den Enkeln entfernt und einer anderen Zeit anzugehören scheinen und doch fühle man sich ihnen „irgendwie“ zugehörig.16 In einer akustischen Videoinstallation mit acht Projektionen, die Interpreten mit einer Metapher des Weiblichen als „Bauch“ bezeichneten, sieht man Frauen (alle über siebzig Jahre alt) frontal wie Moderatoren im Fernsehen vor der Kamera sitzen und von ihren Großmüttern erzählen. Sie sprechen vor einem eingeblendeten Stadtpanorama wie Fernsehmoderatorinnen. Zunächst Verwirrung. Der Raum ist dunkel und voll junger Stimmen. Hoch oben bewegen die zu Großmüttern gewordenen Enkel ihre Lippen. Doch ihre Stimmen werden von jungen Mädchen im Alter ihrer Enkel synchronisiert. Sie sitzen in Uniformen von Schulmädchen in einer Kabine und beobachten die Projektionen der Großmütter: Schöne, stolze, in Würde gealterte Frauengesichter – das krasse Gegenteil der in die Zukunft projizierten Großmütter der jungen Frauen von heute, wo es Yanagi weitgehend vermied, die imaginierten Großmütter lebensecht erscheinen zu lassen. Echt sollte die Imagination sein, nicht das Imaginierte. In Granddaughters gibt es einen Bruch durch die sichtbare Synchronisierung. Was bewirkt diese Überblendung? Wie jede Verfremdung sorgt sie für Abstand zum Geschehen, vermeidet Sentimentalitäten, die bei familiären Reminiszensen nahe liegen, rückt aber vor allem das Private der Erinnerung in die subtile Distanz des Inszenierten. Darin liegt die Höflichkeit der Künstlerin. Sie belastet die Ausstellungsbesucher nicht mit vertraulichen Anekdoten fremder Familien im Maßstab 1:1, sondern stellt eine artifizielle Brechung her. Die Besucher sehen wirkliche Großmütter (als Projektion) und wirkliche Enkelinnen (in der Synchronkabine), wenn auch in keiner Weise verwandtschaftlich, sondern durch ihre Altersgruppe getrennt und verbunden Betrachtet man die von der Künstlerin inszenierte Premiere in Kobe in ihrem Beziehungsgeflecht, sieht man die jüngsten Enkel (die Mädchen) körperlich anwesend und den älteren Enkeln (den Großmüttern) ihre Stimme leihend, während diese von ihren toten Großmüttern erzählen. Diese ältesten Enkel (die Ururgroßmütter) existierten nunmehr als Erzählung deren Ururenkel. Drei Enkelgenerationen umfassen den Radius von hundertfünfzig Jahren. Die Projektion in die Zukunft der Jüngsten (bis in das Jahr 2050) findet ihre Ergänzung und ihr Gegenstück in der Erinnerung an die Ältesten, mit denen man noch verkehren konnte. Trotzdem verengt Miwa Yanagi die Relationen nicht auf eine einzelne Familie. Das Band der Generationen ist ihr wichtiger. Ihre Familie heißt Japan.

 

Peter Herbstreuth in MIWA YANAGI, Deutsche Bank Art, Frankfurt/Main, 2004

 

Peter Herbstreuth, geboren 1959, lebt in Berlin. Er lehrt Theorie der Gestaltung an der Universität der Künste Berlin. Neben zahlreichen Publikationen über zeitgenössische Kunst arbeitet er als freier Kritiker und Kurator.

 

1 Miwa Yanagi. Interview mit Mako Wakasa. In: Journal of Contemporary Art, New York, 2002.

2 Miwa Yanagi. Interview. ebd. When the museum guides spoke the same words in the same uniform in the performance, the visitors ended up following them. The audience didn‘t look at the museum‘s art work. Some even left the museum when the performance was over.

3 Miwa Yanagi. Interview. ebd. I have experienced a pleasurable sensation in becoming a part of a group. I wanted others to see that.

4 Miwa Yanagi. Interview. ebd.

5 Miwa Yanagi. Interview. ebd.

6 Erhellend über diesen diffizilen Komplex: Enno Kaufhold: Kameralose Bilder. In: natürlich / künstlich. Artificial Life. Kunsthalle

Rostock u. a. (Hrsg.), Berlin, 2001.

7 Miwa Yanagi sagt: „Die Elevator Girls Serie handelte ebenso von mir wie von anderen Japanerinnen. Als ich die Serie anfing, arbeitete ich als Lehrerin nach dem Universitätsabschluß. Damals hatte ich ein starkes Gefühl, ich würde nur eine Rolle in einer standardisierten Gesellschaft spielen. Ich ging einer bestimmten Arbeit in einer bestimmten Umgebung nach. Ich arbeitete nicht tatsächlich als Aufzugsmädchen, aber die Idee klang in mir auf eine symbolische Art und Weise nach.“ (The Elevator Girls series was about myself as well as other Japanese women. When I started the series, I was working as a teacher after graduating from university. Back then, I strongly felt that I was just playing a role in a standardized society, having a particular occupation in a particular setting. I did not work as an elevator girl literally, but the idea resonated in me in a symbolic way.). In: Miwa Yanagi. Interview. ebd.

8 Miwa Yanagi. Interview. ebd.

9 Hiromichi Hosoma: From ‘I‘ to Relationship. In: Miwa Yanagi: Granddaughters, Shisheido, Tokyo, 2002.

10 NN. / Corporate Culture Department: Forword. Shiseido, Tokyo, 2002 ... bringing into light the oppression and isolation women feel in such environments, as if they have been deprived of their identities and have been reduced to mere parts of the scenery.

11 Miwa Yanagi: Midnight Awakening Dream. Amus Art Press. Tokyo, 2001.

12 Miwa Yanagi. Postmedia Art Books, Tokyo, 2002. One simply passes through most places which appear in dreams. In reality, the path to any destination is filled with places, one passes through in transcience—streets, staircases, elevators, escalators, station platforms.

13 In: Miwa Yanagi. Interview. ebd. “Even though they appear to look the same, their difference exist within the sameness.

A difference is so minute that you may not notice it from outside.“

14 Dazu Miwa Yanagi: „Für die Elevator Girls arbeitete ich mit vielen Fotomodellen. Ich wechselte von Performance Art zur Fotografie, weil ich die Darstellung der Performer hundertprozentig kontrollieren wollte.“ (I used a lot of models for the Elevator Girls series. I switched to photography from performance art, because I wanted to control their performance hundred percent.)

In: Miwa Yanagi. Interview. ebd.

15 Sie sagt: „In My Grandmothers kann nicht jede aufgenommen werden. Ich entscheide, wer mir gefällt.“ (Not everyone can

be included in the My Grandmothers series. My preference is definitely the key.) In: Miwa Yanagi. Interview. ebd.

16 Zitiert nach: Yuka Egami: And Life goes on. In: Theater of our Lives. Hyogo Prefectural Museum of Art (ed.), Kobe, 2002.