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WAS MAN SEHEN MÖCHTE UND WAS MAN SIEHT


 

Interview von Hans Ulrich Obrist mit Takehito Koganezawa

 

HUO: Meine erste Frage zielt auf Ihre Anfänge. Können Sie erzählen, wie Ihre Arbeit anfing?

 

TK: Es ging damit los, dass ich über das Nichts nachdachte. Das ist die Basis meines Denkens und mein Grundkonzept. Ich möchte wirklich das Nichts sehen, genau das Nichts. Aber ich stellte fest, dass alles immer eine Bedeutung hat. Also versuche ich die Bedeutung aus einem Objekt herauszuwaschen. Das ist der Anfang. Der nächste Schritt beschäftigt sich damit, wie man Nichts/Leere zeigen kann, das ist vielleicht ein Paradoxon, so wie die Bedingung für ein Loch im Donut. Wenn wir das Loch im Donut sehen wollen, müssen wir erst mal einen Donut machen.

 

HUO: Der Donut enthält die Vorstellung eines leeren Zentrums. Roland Barthes schrieb einmal einen Essay, in dem er Tokio eine Stadt mit einem leeren Zentrum nannte. Glauben Sie, es gibt einen Zusammenhang zwischen Ihrer Arbeit und der Vorstellung von der japanischen Stadt mit einem leeren Zentrum?

 

TK: Das Zentrum von Tokio sieht leer aus, aber das ist nicht unbedingt die ganze Wahrheit. Irgendjemand sieht einfach nur Leere, aber vielleicht sehen andere dahinter eine unsichtbare Kraft. Ein leeres Zentrum ist eine Art neutraler Raum, es könnte ein Platz ohne Sinn und Zweck sein.

 

HUO: Sie sind ein japanischer Künstler, aber zur Zeit leben Sie in Berlin. Es scheint immer häufiger vorzukommen, dass Künstler gar nicht so sehr in eine geographische Umgebung gehören, sondern vielmehr zwischen den Geographien leben. Die japanische Bedeutung von ma, »Dazwischensein«, zwischen den Räumen, veranlasst mich zu der Frage, ob Sie sich selbst auch so sehen? Sehen Sie sich zwischen den Geographien, oder haben Sie eher das Gefühl, im Exil zu leben, oder ist es noch unbestimmter? In der Geschichte der Avantgarde war der Begriff des Exils ja ein wichtiges Moment.

 

TK: Japan ist eine komplett isolierte Insel, und das ist ein sehr wichtiges Merkmal. Das ganze Land ist von Meer umgeben, das heißt, dauernd kommen neue Konzepte und neue Sachen von außen an. Für mich ist Japan wie ein riesiger Spielplatz, auf dem viele verschiedene Kulturen, verschiedene Wertvorstellungen, sogar verschiedene Götter zusammen spielen, sich mischen und miteinander verschmelzen. Und deshalb hatte ich nicht das Gefühl, dass ich mich sehr ernst nehmen muss. Irgendwo da draußen konnte ich immer wieder Teile von mir selbst finden.

 

HUO: Und wie funktionierte das auf der persönlichen Ebene? Sie wuchsen in Japan auf und leben nun in Deutschland – wie kam es dazu?

 

TK: Zuerst erhielt ich ein Stipendium von einer japanischen Firma. Das bedeutete, dass ich mindestens ein Jahr lang nicht arbeiten musste. Und dann hatte ich, ein Jahr bevor ich aus Tokio wegzog, eine Ausstellung in der Galerie Wohnmaschine in Berlin. Am Anfang kam es mir so vor, als hätte ich ein Jahr Urlaub.

 

HUO: Vor ein paar Monaten sprach ich mit Yutaka Sone, und er sagte, dass er von Japan nach Los Angeles ziehen musste, weil er nicht genug Platz hatte. Er hatte das Gefühl, er bräuchte mehr Platz. Finden Sie das auch?

 

TK: Ich brauche nicht so wahnsinnig viel Platz. Übrigens war es eher ein Zufall, dass ich nach Berlin gezogen bin. Aber gleichzeitig musste es wohl zwangsläufig dazu kommen.

 

HUO: Ich habe einige Ihrer Arbeiten gesehen, Videos mit Performance, die aber auch zeichnerische Elemente enthalten. Vielleicht können Sie etwas über Ihren Umgang mit diesen beiden unterschiedlichen Medien erzählen.

 

TK: Ursprünglich habe ich Video, Film, Photographie und Sound und so weiter studiert. Bevor ich anfing, selbst Kunst zu machen, haben sich meine Gedanken nur um Zeit gedreht – das war mein großes Thema. Seit meinem Umzug nach Berlin ist Zeit immer noch ein Thema, mit dem ich mich beschäftige, aber jeder Ort hat sein eigenes Zeitgefühl. Berlin, Tokio, New York – dort herrschen überall sehr unterschiedliche Beziehungen zwischen der Zeit und der Stadt, und deshalb finde ich, dass Zeit nicht sehr beständig ist. Sie treibt dahin. Vielleicht ist mein Hauptthema nicht mehr, Zeit festzuhalten, sondern vielmehr, sie wie einen Fluss oder wie Wellen einzufangen.

 

HUO: Können Sie darüber noch mehr erzählen, vielleicht auch in Bezug auf Ihre Arbeiten?

 

TK: Das Thema des DJ zum Beispiel ist nichts von links nach rechts oder rechts nach links, sondern es ist das Nachdenken darüber, wie man den Fluss erfasst. Die Musik hat einen Fluss, aber auch Videoarbeiten haben einen Fluss. Ich mache Zeichnungen, aber keine Gemälde, und der Grund fürs Zeichnen ist, dass auch der Strich eine Art Ur-Fluss hat. Mich interessiert, wie man diese Flüsse mischen oder konstruieren kann. Meine Arbeit ON THE WAY TO THE PEAK OF NORMAL besteht aus Schichten von Bild und Ton. Bild und Ton bestehen aus je 99 Fragmenten, die nach einem Zufallsprinzip abgespielt werden. Das Publikum fühlt sich bei dieser Arbeit möglicherweise nicht sehr wohl, denn viele Bilder und Töne tauchen mehrmals auf, aber immer in anderen Kombinationen. Sie wirken wie ein Hindernis zum leichten Verständnis. Also bringen die Schichten unterschiedlicher Flüsse das Publikum dazu, an den Rand des Nichts zu treten. Ich glaube, diese Art des Denkens gilt für viele Medien. Im Moment arbeite ich mit Skulpturen, aber das ist schwierig.

 

HUO: Geht es um Skulpturen, die auf einem Prozess aufbauen? Haben sie etwas mit dem Fortgang der Zeit zu tun?

 

TK: Sie haben sehr viel mit Zeit zu tun, denn meine Skulpturen werden unbeständig sein, sie sind voller Bewegung und sie machen Geräusche. Das Ganze baut auf meinen Vorstellungen von Performance auf und greift auch einiges aus der Videoarbeit auf.

 

HUO: Vielleicht können wir uns Ihr Interesse an Musik noch etwas genauer ansehen. Sprechen Sie mit Komponisten und DJs, oder komponieren Sie selbst? Mit wem sind Sie in Kontakt?

 

TK: Ich suche immer nach zeitloser Musik. Und wenn ich Musik gehört habe, verliere ich das Zeitgefühl. Ich mag diese Art von Musik. Ich habe mit Robert Lippok und Carsten Nicolai zusammengearbeitet, aber das fühlte sich nicht mehr nur an wie gute Musik – das ging schon in den Bereich der Architektur. Carsten schuf Fragmente eines Gebäudes für mich. Diese Erfahrung und die Vorstellung, dass Sound die Möglichkeit hat, etwas anderes zu bewirken, war völlig neu für mich. Ich habe auch mit Brandon Labelle zusammengearbeitet, einem Künstler aus Los Angeles. Sein Sound ist ziemlich roh. Er benutzte ein Kontaktmikrophon, das den Klang direkt von einem Objekt abnimmt. Wenn ich seine Sounds höre, habe ich das Gefühl, ich bin mitten in den Organen seines Körpers. Er hat sich das Kontaktmikrophon buchstäblich in den Mund gesteckt, während er einen Apfel aß. Taku Sugimoto gefällt mir auch. Sein Gitarrenspiel führt dazu, dass ich aufhöre zu denken und nur noch seinem Sound lausche. Auf jeden Fall wollte ich mich überraschen lassen.

 

HUO: Ich würde gerne auch noch mit Ihnen über die Beziehung zur Wissenschaft der Zeit reden. Ilja Prigoschin hat in den Dreißigern den Begriff Zeit in die Physik eingeführt und der Zeit innerhalb der Naturwissenschaften eine Schlüsselfunktion eingeräumt. Bis dahin stützte die Physik sich eher auf Philosophie und Geschichte. Die Vorstellungen von Zeit und Thermodynamik haben sich rasant fortentwickelt. Deshalb interessiert mich die Auffassung von Zeit in der Kunst. Ich würde gerne wissen, ob Sie zu diesen Gedanken Bezüge haben?

 

TK: Es tut mir leid, ich glaube nicht, dass ich das nötige Wissen über Physik besitze. Aber diese Frage erinnert mich an das Paradoxon des Geräuschs. Wenn zwei Gegenstände aneinanderschlagen, hört man nur ein Geräusch. Werfen Sie einen Ball an die Wand, lassen Sie ein Buch auf den Boden fallen: In beiden Fällen hören Sie nur ein einziges Geräusch. Warum ergibt eins plus eins wieder eins? Die Physik kann das vielleicht gut erklären. Ich interessiere mich nicht mehr dafür, eine Antwort zu finden, sondern lieber im Paradoxen zu verweilen.

 

HUO: Es geht nicht nur um Zeit, es ist auch eine Frage der Dauer. Bergson sprach über Dauer in Bezug auf die Philosophie und sagte, dass »Dauer der kontinuierliche Fortschritt der Gegenwart« sei und dass sie die Zukunft bestimme. Bergson meint, es sei die Bewegung, die zählt – Dauer enthüllt dies als kontinuierlichen Schöpfungsprozess, der gelegentlich von etwas Neuem unterbrochen wird. Fragestellungen über Langsamkeit und Dauer sind interessant und haben vielleicht etwas mit Ihren Videos und mit Ihren Methoden zu tun.

 

TK: Langsamkeit und Dauer können langweilig sein. Ich unterscheide zwischen Müdigkeit und Langeweile. Müdigkeit entsteht meist nach zu viel Stimulierung. Sie kommt von außen und erstickt mich. Langeweile hingegen taucht in meinem Kopf auf, und sie fragt mich, warum ich mich langweile. Sie ist also eine Art Selbstkritik. Echte Langeweile ist wie ein Spiegel, in dem man sich ganz genau ansehen muss. Ich hoffe, dass meine Arbeit die Leute nicht einfach nur unterhält und ermüdet.

 

HUO: Welche Filme waren für Sie wichtig, und was hat Sie beeinflusst?

 

TK: Der erste Film der Welt war für mich sehr wichtig. Dann Das Kabinett des Dr. Caligari. Das bewegte Bild ist ein Möglichkeit, die Unbeständigkeit von Zeit und Existenz anzusprechen. Mit Video, Kino und Fernsehen ist es sehr schwierig, diese Existenz festzuhalten. Durch Das Kabinett des Dr. Caligari wurde mir klar, dass alle Bilder im Fernsehen, auf Video und im Kino eine Art Illusion sind.

 

HUO: Und gab es irgendwelche Künstler, die Ihre Arbeit besonders beeinflusst haben?

 

TK: Was Film betrifft, so war die Arbeit von Fischli/Weiss besonders wichtig für mich.

 

HUO: Warum?

 

TK: Sie wandern um Bedeutungen herum. Sie gehen nicht mitten in die Bedeutung hinein, sondern wandern um sie herum. So, als ob man um einen See aus Unsinn herum wandert, und ich mag dieses Gefühl.

 

HUO: Und woran arbeiten Sie im Moment? Es würde mich interessieren, zu erfahren, in welche Richtung sich Ihre Arbeit bewegt.

 

TK: Es ist schwierig, über noch unfertige Arbeit zu sprechen. Die Skulptur wird von der Schwerkraft beherrscht, also muss ich erst mal der Schwerkraft entkommen. Meine Videoarbeiten, Zeichnungen und Performances sind weitgehend schwerkraftlos. Ich würde gerne so etwas wie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst, machen. Das wäre eine andere Art, einen Donut zu machen.

 

HUO: Ich bin neugierig auf unrealisierte Projekte; gibt es Projekte, die zu groß sind oder zu klein, um realisiert zu werden?

 

TK: In Tokio wollte ich einen Videokatalog menschlicher Tätigkeiten anfertigen, der sämtliche unserer Handlungen umfasst. Als ich begann, eine Liste mit Handlungen anzulegen, wurde mir klar, dass ich nie fertig werden würde. Ich habe diese Liste immer noch, sie beginnt mit einem Niesen – ich habe vierzig Arten zu niesen verzeichnet. Dieses Projekt wurde natürlich noch nicht realisiert. Es ist auch schwierig zu erklären, warum ich mich damit beschäftigen möchte. Vielleicht war es der Fokus, der mir wichtig war. Wenn man etwas sieht, braucht man immer einen Fokus. Man kann rein- oder rauszoomen, aber man braucht einen Fokus. Immer wenn ich mit einer Kamera arbeite, habe ich ein Dilemma, weil es da nur einen einzigen Fokus gibt. Aber manchmal sehen die Leute alles so klar. Ich glaube, Konzentration funktioniert nicht, indem man von einer Sache zur nächsten schneidet. Echte Konzentration bedeutet, dass man alles ganz deutlich sieht. Manchmal passiert das, und wir können es auch üben. Mir liegt viel daran, diese Art des Sehens genauer zu erforschen und zu zeigen. Es gibt so viele unsichtbare Beziehungen in den Flüssen untereinander, aber unsere Sehmethoden reichen nicht aus, um sie einzufangen. Wie wir fokussieren und warum wir fokussieren. Es ist auch eine Frage, was man sehen möchte und was man sieht. Diese beiden Dinge gehen mir ständig im Kopf herum. Sie haben sehr viel mit der Idee des Fokus zu tun.

 

HUO: Das ist ein wunderbarer Titel für unsere Diskussion!

 

 

Übersetzung aus dem Englischen: Rebekka Göpfert, Transkription: Matt Price